Der GENERAL-ANZEIGER BONN schrieb am 22.09.08:
"Chronik einer Verführung"
„Spieltrieb" im Hörsaal der Bonner Universitäts-Kinderklinik
Von Elisabeth Einecke-Klövekorn
Das Publikum des Prozesses muss sich seine Plätze in der Bonner Universitäts-Kinderklinik erst mal erobern. Straff gespannte, ziemlich reißfeste Plastikfolien versperren den Weg zu den Hörsaalbänken. Es geht um Sex mit Minderjährigen, Erpressung und gefährliche Körperverletzung. Tatsächlich um zwei höchst gescheite Gymnasiasten, die mit guten Gründen die Unterscheidung von Gut und Böse im globalisierten Dorf als längst überholten Vorwand begriffen, als „Urenkel der Nihilisten" selbst der Negation aller Werte keinen Glauben mehr schenkten und die Gleichgültigkeit von allem zur Voraussetzung ihrer Weltanschauung machten. Opfer ihrer Erprobung der Spieltheorie war der aus Polen stammende Sport- und Deutschlehrer Smutek.
Juli Zehs 2004 erschienener Roman „Spieltrieb" über die Nachwende-Generation wurde ein Bestseller. „Überwältigend bildhaft, mit szenischem Witz und psychologischem Feingefühl", schrieb der „Spiegel" über das mehr als 550 Seiten starke Werk. Das szenische Potenzial nutzte Bernhard Studlar für seine Bühnenfassung, die 2006 am Hamburger Deutschen Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Das Bonner „Theater im Hörsaal e.V." unter der Leitung des Regisseurs Franz-Josef Becker, das sich mit heiklen Stücken wie „Täter" von Thomas Jonigk (2005) und „Hasenfratz" von Martin Baucks (2006) einen Namen gemacht hat, präsentiert seinen „Spieltrieb" schlicht famos. Aus der Not kurzfristiger Neubesetzungen macht Beckers Inszenierung einen raffinierten Kunstgriff: Sie spielen mit dem Buch in der Hand den narrativen Subtext der Handlung mit, weil die Lektüre Teil ihrer Rolle ist. Denn Zehs jugendliche Hauptfiguren sind universal belesen, sie reden Nietzsche, Musil und die Kritik der Kritischen Theorie als eitel selbstbewussten Jargon der Eigentlichkeit.
Im Zentrum steht die hochintelligente fünfzehnjährige Schülerin Ada. Mareike Beykirch (seit kurzem Schauspielstudentin in Leipzig) verkörpert mit herbem Charme diese altkluge Außenseiterin. Ada weckt das Interesse des neuen Mitschülers Alev El-Quamar. Er ist attraktiv, klug und unverschämt. Matthias Jochmann spielt glänzend diesen rhetorisch brillanten Zyniker. Ada wird seine Partnerin in einem perfiden Spiel. Sie verführt Smutek (wunderbar hilflos zwischen Abwehr und Verlangen: Sebastian Teichner), Alev fotografiert die geschlechtlichen Turnübungen, mit den Bildern erpressen die beiden ihren Lehrer. Die sexuellen Trainingseinheiten werden auf der Bühne glücklicherweise nicht naturalistisch gezeigt, sondern von Katharina Ustinov und Ricardo Diaz sensibel getanzt (Choreographie: Heike Werntgen).
Das Intermezzo mit den kurz als Lernstoff per Video eingespielten Softpornos zwecks oraler Entjungferung des Schulbandleaders Olaf (Christian Weiblen) ist eher harmlos, Adas Vorbereitung zur Verkehrstauglichkeit ein rein technischer Akt. Als Adas bürgerliche, allein erziehende, grotesk verständnisvolle Mutter liefert Anja von der Lieth-Ehl ein komisches Glanzstück. Wolfgang Pohl ist der am Weltgeist verzweifelnde Geschichtslehrer Höfi. Anke Jansen geistert als Smuteks depressive Gattin ständig halsbrecherisch über die Hörsaalbänke. Martin Wroblewski zitiert mit Gedichten von Zbigniew Herbert Smuteks verletzliche polnische Seele. Die Titel der vielen kurzen Szenen ruft der Regisseur selbst als oberste Instanz aus. Der ganze Hörsaal, in dem die Schauspieler oft zwischen dem Publikum agieren, wird zur Bühne. Bilder vom Originalschauplatz, einem Bad Godesberger Gymnasium, werden gelegentlich per Großleinwand gezeigt - Dokumente in einer forensischen Situation. Das Urteil bleibt nach Adas großartigem Schlussplädoyer offen. Der Premierenbeifall für die gelungene Aufführung war freilich eindeutig: Sehr gut!
Friedhelm Roth-Lange 20 September 2008 10:19 [www.nachtkritik.de]
Kritik zu der "Spieltrieb"-Premiere im Theater im Hörsaal in Bonn am 19.9.08. Regie: Franz Josef Becker
Die Inszenierung hat mir insgesamt sehr gut gefallen und mich mit manchen Figuren sogar etwa vertrauter werden lassen als das Buch. Vor allem Ada und Schneewittchen. Die Mutter hatte es sicher am leichtesten, hat aber ihre Aufgabe auch sehr überzeugend gelöst. Alef ist genau das monströse Ekel, das ich mir darunter vorgestellt habe, auf die Dauer sehr schwer zu ertragen, schreit förmlich danach, mal mit dem Kopf vor die Wand gestoßen zu werden mit seinen Sprüchen. Auch Olaf macht seine Sache gut, Smutek dagegen und Höfi kranken am meisten darunter, dass sie so jung besetzt sind.
Das Spiel im Raum, die eingespielten Videosequenzen, vor allem eine Szene zwischen Ada und Olaf am Fenster, aber auch die Tanzszenen haben mir sehr gut gefallen.
Alle Darsteller haben ein tolles Potenzial und können sich wirklich sehen lassen! Und unvergessen die Idee, eine Passage aus dem SchneewittchenText im Chor sprechen zu lassen!
Aber: Theater ist das Stück auch in der Bearbeitung immer noch nicht, vor allem keins mit Menschen aus Fleisch und Blut. Insofern ist das ganricht unpassend, dass die Menschen in der Inszenierung immer mit einem Buch vor dem Kopf rumlaufen und daraus vorlesen... Das Rezitative ermüdet aber eben doch auf die Dauer. Daher der wichtigste Einwand: warum muss das so lange dauern, eine Stunde weniger hätte auch gereicht, um die Geschichte zu erzählen. Welche?
Ja,auch da liegt ein Problem, denn wie der Roman will das Stück immer noch viel zu viel erzählen: das Familien- und Beziehungsdrama Adas reicht doch schon dicke aus für einen Theaterabend, was müssen da noch der Lehrer Höfling mit seiner krebskranken Frau und das depressive Schneewittchen sich breit machen. Eine Motivation oder eine Psychologie bekommen Ada und Alef durch diese Hintergrundgeschichten auch nicht, genauso wenig wie Smutek.
Überhaupt ist mir in dem ganzen Text immer noch viel zu viel intellekteuelle Präpotenz drin, Klugscheißerei zu gut deutsch, die den Figuren überhaupt nicht bekommt. Da sind Olaf und Adas Mutter dann richtig angenehme Gegenbeispiele. So bin ich jedenfalls am Ende doch mit einer großen Portion Überdruss rausgegangen und die berührenden Momente waren wieder alle verschüttet.